room for humour
Press Archive 1996
Fürther Nachrichten, 30.01.1996, ULRIKE KÖRNER
Sinnbilder der Begierde
Arbeiten von Sighard Gille im Stadttheater – Provozierende Verquickung von Erotik und Brutalität

Erotik – der Urquell aller Künste? Mancher Kunstkenner bezeichnet die Lust am Orgiastischen als „die wertvollste Tendenz der Kultur“.
Sighard Gille, freischaffender Künstler und Professor für Malerei an der HGB Leipzig, führt, diese tonangebende Strömung weiter – und zwar mit Kopf, Herz und Bauch – in ihrer ganzen malerischen Bandbreite.
Die am Sonntag eröffnete Ausstellung im Stadttheater steht weder im „sinnlich“ engen Zusammenhang mit dem Schwerpunktthema der Theatersaison – „Weibsstücke – Mannstrümmer“. Die Lust und Last in der Begierde beider Geschlechter kommt im prallen und farbwuchtigen Werk Sighard Gilles zur Geltung.
Als Hauptsponsor hat die Siemens AG im Rahmen des 100jährigen Jubiläum der Zweigniederlassung Nürnberg wesentlich dazu beigetragen, daß die Ausstellung möglich wurde.
Otto Dix, Max Beckmann, George Grosz legten Anfang dieses Jahrhunderts die Mißstände im urbanen Raum frei. Bilder von Grosz beispielsweise wurden damals von einem Gericht in „sehr anstößig“ und „weniger anstößig“ unterteilt, sexuelle Darstellungen als grob und unzüchtig und pornographisch verurteilt. Wo Grosz die Sexualität als Mittel kulturpolitischer Provokation einsetzt, stellt Sighard Gille in seinen „schamlosen“ Bildern das ganz Natürliche im Menschen dar: den animalischen Trieb, die pure Fleischeslust.
Grenze der Erträglichkeit
Gilles schlagfertige Verquickung von Sinnlichkeit und Brutalität stößt oft an die Grenze der Erträglichkeit. So manches Bild wirkt unverschämt obszön, gemein, weil ehrlich, formal und fachlich erschütternd. Und gerade das ist die Absicht des Künstlers: Er fordert mit seiner barhäutigen Malerei den Betrachter zur kritischen Auseinandersetzung heraus.
„Auswildern“ heißt ein 210 mal 160 Zentimeter großes Ölgemälde in Gilles Programm, das Grenzen überschreitet, wird das „Auswildern“ zum Schlüsselwort der Arbeit. Der Mensch wird mit seiner Ursprünglichkeit konfrontiert.
Die grobschlächtig aufgetragene, pastose Farbmasse des Bildes gewinnt den Charakter eines Reliefs. Wie ein fettes Siegel wirkt das Bild an der Wand. Das Motiv selbst quillt aus dem Farbmaterial heraus. Die „Amazonenfrau“ ist herrlich aktive in der grellen Schlacht.
Wie Hiebe wirkt die gelbe Farbe im „Akt animalisch“. Aggressives Rot steht neben einem matschigen Erdton. Die abstrahierten Leiber erinnern an aufgebrochene Äcker; Arme, Beine, Schenkel verlieren sich im menschlichen Akt. „Trotz sinnlicher Tiefe ist ein kritisches Reflektieren des Künstlers spürbar“: Gilles Ehefrau, die als Kunstwissenschaftlerin unter dem Pseudonym I. G. Zet arbeitet, weist in ihrem Vortrag zur Ausstellungseröffnung auf die Doppeldeutigkeit des „Begreifens“ hin.
Analog dazu könnte man die Bildfolge „Morgen“, „Mittag“, „Abend“ sehen, in der Gille den Rhythmus des Tages symbolhaft einsetzt. Grundidee des Zyklus’ war eine Terrakottafigur in Form einer Fruchtbarkeitsgötting. Jedem der Bilder ist eine der drei Grundfarben zugeordnet – dem Farbwesen entsprechend. Ein Aufglühen und Vergehen der Frau, der Leidenschaft, der Sinne…
Zahlreiche Tusche- wie Aquarellskizzen ergänzen die Ausstellung. Hier kommt die leise und intime Seite des Künstlers zur Geltung.
Nicht zuletzt durch den sehr zentrierten Bild-Aufbau der Arbeiten kann sich der Betrachter ungestört ins Geschehen mit einschließen. Gille verzichtet auf die Darstellung von Individuen, er prägt ein Sinnbild der Geschlechter.
Der Künstler sieht die Malerei als Kontrast zur neuen Medienlandschaft. „Wunderbar was im Leben kaum machbar ist, was jeder Computer verweigert, das kann Kunst leisten, sie kann ja und nein zugleich sagen.“